Museum Wiesbaden:
"Ernst Wilhelm Nay. Retrospektive"
September 16, 2022 - February 5, 2023
As an artist repeatedly featured at the early editions of documenta, the German painter Ernst Wilhelm Nay (1902—1968) became internationally famous after WWII. His striking visual vernacular formed a bridge between the figurative expressionism of prewar Modernism and the gestural abstraction of the postwar period.
It is the first time this important artist has ever featured in a solo exhibition at Museum Wiesbaden and, befitting the occasion, it will be a comprehensive retrospective of Nay’s broad oeuvre. On view are not only the famous Lofoten paintings, as well as the Disc and Eye Pictures, but also the Hecate and Fugal Pictures, which were created in the Rhine-Main region. The retrospective will make these creative periods — usually perceived as self-contained and homogenous — tangible as an organic, interlocking body of work spanning many decades.
Die Kräfte der Natur
Dünenbilder, Fischerbilder und Lofotenbilder
Um 1932 wollte Nay in seiner Kunst den kosmischen Zusammenhängen zwischen dem Menschen und der Natur — er selbst sprach hierbei von »mythischer Bindung« — hinter der äußeren Erscheinung der Dinge nachspüren.Den Anfang machten einige abstrahierte Tierbilder, in welchen er beispielsweise eine Kuh, ein Kälbchen oder einen Elchkopf durch ein netzartiges System aus Flächen und Linien mit ihrer natürlichen Umgebung zu verbinden suchte. Als er um 1935 an der Ostsee dem ursprünglichen Leben der Fischer begegnete, rückte zunehmend der Mensch ins Zentrum seiner Kunst.
Dessen Eingebundensein in die Dynamik von Himmel und Erde, von Sturm und Meer drückte Nay mit dem kraftvollen Rhythmus der Farben aus. Die Bedeutung der Farben für seine Malerei wuchs immer mehr — aus ihnen ergaben sich erst die Formen. Schon 1930, während eines Bornholm-Aufenthaltes im Fischerdorf Teju, mag ihm die Archaik des Lebens am Meer — die Verwobenheit von Himmel, Ozean, Erde und Menschauf einer allgemeingültigen Ebene — als Lösung aufgeblitzt sein.
Die Unterstützung durch den Lübecker Museumsdirektor Carl Georg Heise und den Maler Edvard Munch ermöglichten ihm 1937 eine erste Reise zu den norwegischen Lofoten-Inseln. Hier erlebte Nay mehr denn je die Verflechtung des Menschen mit der Natur. In seinen Bildern vereinfachte er dessen Gestalt fast zu einem Zeichen aus Farbe: Es geht in den kristallinen Formen der felsigen Umgebung auf und verwächst mit ihr zu einem großen Ganzen.
Krieg und Frieden
Frankreich- und Hekate-Bilder
Im Dezember 1939 begann für Nay der Kriegsdienst. Als Soldat zunächst in Schwerin (an der Warthe) und anschließend in Südfrankreich stationiert, konnte er selten künstlerisch arbeiten; erst ab 1942 in Le Mans gewann er mehr Freiheit.
Er knüpfte deutsche und französische Kontakte, auch zu dem Kunstfreund Pierre Térouanne. Dieser überließ ihm sein Atelier und versorgte ihn mit Malmaterial: Die hier geschaffenen Arbeiten — ein verwunschener Garten, eine gemeinschaftliche Apfelernte oder einträchtige Familie — wirken im ersten Moment verstörend idyllisch, tragen aber in ihrer Fragilität der kristallin wirkenden Formensprache und blitzenden Farbkontrasten stets die Vergänglichkeit dieses doch nur vordergründigen Paradieses in sich.
Im Mai 1945 aus der Armee entlassen, zog sich Nay nach Hofheim am Taunus zurück, wo ihm seine Freundin Hanna Bekker vom Rath ein Atelierhaus vermittelte. Er trug die Farben jetzt dick und mit bewegtem Pinselstrich auf und verlieh seinen Darstellungen somit große Lebendigkeit. Anregungen dafür fand er in der Bibel und in den Mythen der griechischen Antike. In den geheimnisvollen Hekate-Bildern (benannt nach der Göttin der Magie) zeigte er Situationen von Verwandlung sowie ein idyllisches Dasein in der Natur. Das ruhige Hofheim, wo Nay sechs Jahre bis 1951 außerordentlich produktiv gewesen ist, nach den Schrecknissen des Krieges der ideale Ort: „Ich habe das ganz Häuschen für mich, es liegt oberhalb des kleinen Städtchens mit weitem Blick über die Mainebene zum Odenwald hin“, schrieb er einem Freund. Und weiter: „Sie werden sagen, es mag da noch so etwas wie [ein] Paradies bestehen.“
Melodik der Farben
Fugale und Rhythmische Bilder
Nay fand Anregung in der Fuge, einer Kompositionsform der Musik, in der verschiedene Stimmenzeitlich versetzt und doch gemeinsam erklingen: Durch ein Verschleifen, Wiederholen oder Umkehren von Farbflächen erzeugte er in seinen Bildern dynamische Bänder und rhythmische Schwünge. Sie kreisen häufig um schwarze Punkte und erzeugen optisch eine Bewegung. Der Bildinhalt ist kaum noch zu erfassen, und doch sind letzte Erinnerungen an Figuren vorhanden.
1951 zog Nay nach Köln. Die Lebendigkeit der Großstadt schlug sich in den „Rhythmischen Bildern“ nieder, seinen ersten völlig abstrakten Werken.
Das Spiel aus Form, Linie und Farbe erschien nun freier, noch dynamischer — inspiriert durch Werke der Neuen Musik. Zeitweise wurden die vormals strengen Konturen unscharf und fransten aus, was in der Wirkung — etwa in Bilder wie „Glanz vom grünen Feuer“ oder „Orange merkurisch“ — beinahe einem All-Over gleichkommt, doch kehrte Nay bald wieder zu einer planvolleren Methodik zurück.
Im Herbst 1953 übernahm er auch eine dreimonatige Lehrtätigkeit an der Landeskunstschule Hamburg: Hatte der Maler zunächst nur für sich selbst Grundsätze des Arbeitens formuliert, legte er diese nun seiner Lehre zugrunde. 1955 erschien seine kunsttheoretische Schrift „Vom Gestaltwert der Farbe“.
Mit den „Hekate-Bildern“ hatte Ernst Wilhelm Nay eine wichtige Grundlage für sein weiteres Arbeiten gelegt. Doch überdachte er schon wenige Jahre später seine Bildmittel erneut. In den seit 1949 entstehenden „Fugalen Bildern“ wurde die kleinteilige, dicht und pastos ausgeführte Malerei nun großzügiger, konturierter und gewann an Flächigkeit.
Abstraktion und Inhaltlichkeit
Scheibenbilder, Augenbilder und Späte Bilder
Alle Wissenschaften faszinierten Nay, besonders die Mathematik und die Physik. Albert Einstein hatte nachgewiesen, dass Raum, Zeit und Materie keine festen, sondern veränderliche Größen waren. Es gab nun keine einzige, richtige Sicht auf die Welt mehr, sondern viele mögliche Standpunkte. Zudem wollte Nay auch räumliche Verhältnisse darstellen und dabei entdeckte er für sich das Motiv der Scheibe.
In den 1950er-Jahren entwarf er zahlreiche, an den Weltraum erinnernde Bilder aus übereinanderliegenden Scheiben. Kontraste von dunklen-hellen oder warmen-kalten Farben versetzten sie optisch in Schwingung. Sie schienen zu wirbeln, sich aufzulösen oder über die Ränder hinaus zu drängen. Nay legte Schraffuren und spitze Ovale über seine Kreise und entwickelte 1963/64 Bilder, in denen riesige Augen wie magische Zeichen wirken. Drei dieser Werke wurden 1964 auf der »documenta III« in Kassel an der Decke platziert und entfachten eine große Diskussion um die generelle Inhaltlichkeit seiner Werke.
Heute steht außer Frage, dass Nay, obwohl viele Bilder gegenstandslos erscheinen, stets den Menschen und dessen Stellung im Universum in seiner vielschichten Kunst mitgedacht hat.Von 1965 an vereinfachte Nay seine Malerei noch mehr: Aus wenigen intensiven Farben und gebogenen Formen entwickelte er Bilder mit zumeist senkrecht verlaufenden Elementen. Auch sie wirken zunächst gegenstandsfrei, erinnern aber doch nicht selten an Körper, Glieder, Hände oder Augen.
Bis zuletzt hielt Nay seine Kunst in der Schwebe zwischen Figur und Abstraktion.