Ernst Ludwig Kirchner
Mädchen mit Hut (Gerda)
ca. 1912
Bleistift auf Papier
34 × 27 cm
Signiert sowie rückseitig gestempelt mit dem Basler Nachlassstempel, "B Dre/Ab 12" (Korrektur in Bleistift "Ba") und „K 2827“ nummeriert
Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv Wichtrach/Bern dokumentiert
Nachlass des Künstlers; Sammlung G. F. Büchner, Berlin; Privatsammlung Deutschland
- Galerie Ludorff, "Muse & Modell", Düsseldorf 2014
- Kunstamt Neukölln, Saalbau-Galerie, "Ernst Ludwig Kirchner - Handzeichnungen. Sammlung G.F. Büchner", Berlin 1986
- Galerie Ludorff, "Muse & Modell", Düsseldorf 2014, S. 11
- Kunstamt Neukölln, Saalbau-Galerie, "Ernst Ludwig Kirchner – Handzeichnungen. Sammlung G.F. Büchner", Ausst.-Kat., Berlin 1986, Nr. 7 mit Abb.
Ernst Ludwig Kirchner, der nach einem Architekturstudium, als Autodidakt zu malen und zeichnen beginnt, gründet 1905 zusammen mit Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Fritz Bleyl eine der einflussreichsten Künstlergruppen des 20. Jahrhunderts: Die Brücke. Sein Dresdner Atelier, ein „Tempel der Lust“1), ist Treffpunkt der deutschen Avantgarde. Hier entstehen Gemälde und vor allem Zeichnungen, die in kürzester Zeit, nämlich in von den Künstlern proklamierten fünfzehn Minuten, meist nackte Frauen, Kinder und Paare in natürlichen Bewegungen in gekonnt gesetzten Strichen einfangen.2) Unsere Zeichnung „Kauernde Dodo“, die Kirchners Dresdner Partnerin, Doris „Dodo“ Große, in eleganter Pose auf dem berühmten Leopardenhocker zeigt, ist ein typisches Beispiel aus dieser Zeit. 1911 verlässt Kirchner Dresden und auch Dodo, um in die Hauptstadt Berlin zu ziehen. Dort, im Großstadtgetümmel, verändert sich sein Stil: die Linien werden scharfkantig und seine Pinselstriche fedrig. Kirchner saugt die Motive der Stadt in sich auf und bannt sie auf Leinwand und Papier. Straßenszenen zeigen Damen in modischer Kleidung und mit aufwendigem Kopfputz. Häufig portraitiert Kirchner Frauen aus dem Milieu, die sich als Witwen mit Schleiern verkleiden, um von der Polizei unbehelligt zu bleiben. Seine weitere Themenwahl wird maßgeblich von einem Zusammentreffen mit zwei Tänzerinnen beeinflusst: In einer Tingeltangel-Bar lernt er zunächst Gerda und später deren Schwester Erna kennen, die nach einer kurzen Beziehung des Künstlers zu Gerda seine Partnerin wird. Kirchner selbst schreibt rückblickend: „Die Gestaltung des Menschen wurde durch meine dritte Frau (Erna), eine Berlinerin, die von nun an mein Leben teilte, und deren Schwester stark beeinflusst. Die schönen architektonisch aufgebauten strengförmigen Körper dieser beiden Mädchen lösten die weichen sächsischen Körper ab.“3) Die künstlerische Auseinandersetzung mit deren Akten erzieht Kirchners „Schönheitsempfinden zur Gestaltung der körperlich schönen Frau unserer Zeit.“4) Unser Blatt zeigt eine schöne, junge Frau, die gedankenverloren und scheinbar unbeobachtet ihren Hut richtet. Dass es sich um Gerda handelt, erkennt man an den sinnlichen, vollen Lippen und den zu einer Schnecke über dem Ohr hochgesteckten Haaren. Sie trägt eine Bluse mit einem raffinierten Kragen und Knopfverzierungen an Ärmel und Ausschnitt. Kirchner vermag es, Gerdas spontane, flüchtige Geste in wenigen Strichen gekonnt einzufangen. Man erkennt seine Meisterschaft in der genauen und schnellen Beobachtung der Szene und deren beeindruckender Umsetzung auf dem Papier. Rückblickend schreibt der Künstler schreibt unter einem Pseudonym über seine Zeichnungen: „Er [Kirchner] nutzt dazu die ganze Fläche des betreffenden Blattes. Nicht nur die Linien und die von ihnen gebildeten Formen, sondern auch die unbezeichnet bleibenden Teiles des Blattes formen das Bild.“ 5)
Anm.: 1) Felix Krämer, „Vorwort“, in: „Ernst Ludwig Kirchner – Retrospektive“, Ausst.-Kat. Ostfildern 2010, S. 15. 2) „Besonders interessierte ihn [Kirchner] naturgemäß der nackte Mensch. Hier zerriss er bewusst die traditionelle Art des Aktstudiums und schuf sich in seinem Atelier einen Kreis junger Mädchen, die er frei in der Bewegung studierte. […] Er sah die hilflose Abhängigkeit der zeitgenössischen Kunst von der Antike, sah, dass es andere Stile von mindestens ebenso hoher Kultur wie die griechische gab, sah aber auch, dass der Weg zu einer neuen modernen nur durch ein reines naives Naturstudium ohne Stilbrille führte. So wurden die Dresdener Jahre von einer fanatischen freien Arbeit nach nackten Menschen im kargen Atelier (Laden) und an den Moritzburger Seen erfüllt.“ Davoser Tagebuch, 1925. Kirchner als anonymer Kritiker seiner Kunst in einem Entwurf, möglicherweise als Korrektur des Textes von Will Grohmann für dessen zweite Publikation über den Künstler (1926), zitiert nach: Anita Beloubek-Hammer, „Ernst Ludwig Kirchner, Erstes Sehen, Das Werk im Berliner Kupferstichkabinett“, München u.a. 2004, S. 66. 3) Ernst Ludwig Kirchner, „Die Arbeit E. L. Kirchners“, in: Eberhard W. Kornfeld, „Ernst Ludwig Kirchner. Nachzeichnung eines Lebens“, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Basel, Bern 1979, S. 332-345, hier S. 341, wahrscheinlich 1925/26 verfasst. 4) Ebd. 5) L. De Marsalle: „Zeichnungen von E. L. Kirchner“, in: Lothar Grisebach: „E. L. Kirchners Davoser Tagebuch, Eine Darstellung des Malers und eine Sammlung seiner Schriften“, Köln 1968, S. 185.