Lesser Ury
Herbstliche Allee im Tiergarten, Berlin
ca. 1925
pastel on cardboard
35.1 × 50 cm / 13 13/16 × 19 11/16 in
Signed
Aufgenommen in das in Vorbereitung befindliche Werkverzeichnis der Gemälde, Pastelle, Gouachen und Aquarelle von Dr. Sibylle Groß, Berlin
Dr. Sibylle Groß, Berlin
Galerie Koch, Hannover (1974); Privatsammlung Berlin (bis 2003); Privatsammlung Rheinland (2003-2009); Galerie Ludorff, Düsseldorf (2009-2013); Privatsammlung Baden-Württemberg
- Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Frühjahr 2024", Düsseldorf 2023
- Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Frühjahr 2024", Düsseldorf 2024, S. 116
Unsere beiden Pastelle lassen sich als Impressionen einer Großstadt bezeichnen, als Momentaufnahmen, die für eine ganze Ära und Lebensweise stehen können. Berlin hat es dem Künstler Lesser Ury sichtlich angetan. Seine Kindheitseindrücke der Stadt verstärken und erweitern sich ab 1887, als er nach einer künstlerischen Findungsphase in verschiedenen Städten wie Paris und Brüssel in die Stadt zurückkehrt. Dort findet er eine sich im Wandel befindende Großstadt vor, die ihn augenscheinlich in ihren Bann zieht. Von seinem zentral gelegenen Atelier aus sucht er Parkanlagen, belebte Straßen oder Cafés auf, um Eindrücke zu sammeln. Diese bilden die Grundlage für seine Ölgemälde, Pastelle, Zeichnungen und Drucke. Dabei entsteht eine große Variation an Impressionen, denn der Künstler beschränkt sich nicht auf eine bestimmte Stimmung. Wir erkennen in seinem Œuvre unterschiedliche Tageszeiten und damit verschiedene Lichtverhältnisse. Gepaart mit heterogenen Witterungsbedingungen sowie Jahreszeiten ergeben sich immer neue Ansichten seiner Stadt. Lesser Ury verbindet unverkennbar etwas Besonderes mit Berlin und daran lässt er die Betrachtenden teilhaben. Seine Faszination für das städtische Treiben überträgt sich durch seine Bilder spielerisch leicht. »[Er] war ein genialer Künstler, der während des Schaffensrausches ein glückbesessener Schöpfer war, ein Meister der Farbe und des Lichtes, der die Schönheiten der Welt in unnachahmlichen Werken darzustellen vermochte.« 1)
Die Motive sind keine ungewöhnlichen für den Künstler und doch versetzen sie die Betrachtenden unweigerlich in eine bestimmte Stimmung. Der Titel »Droschken (Regenstimmung), Berlin« verrät uns bereits, dass es sich um eine regnerische, urbane Szene handelt. Zu sehen sind einige Droschken mitsamt Pferden und Kutschern, Autos und Personen auf einer von dichten Bäumen gesäumten Straße. Der Betrachtende befindet sich etwa auf Augenhöhe der Droschkenfahrer. Die Vermutung liegt nahe, dass Ury sich bewusst in die Position eines solchen versetzen wollte. Man erhält hierdurch eine leichte Aufsicht auf umhergehende Passierende. Eine von ihnen befindet sich, ausgestattet mit langem Mantel und Regenschirm, unmittelbar vor uns im Profil und direkt hinter einer vor uns fahrenden Kutsche. Sie scheint die Straße überqueren zu wollen und verleiht dem Sujet dadurch, zusätzlich zu den fahrenden Transportmitteln, Dynamik. Diese wird ebenfalls durch das sanfte Verwischen der Farben erzeugt, welches Ury bewusst vornimmt, um die regennasse Oberfläche der Straße darzustellen. Das gleißende, warme Licht der tiefstehenden Sonne spiegelt sich auf der feuchten Fahrbahn wider und erzeugt, im Zusammenspiel mit dunkleren Farbtönen der Bäume, Droschken und Schatten, ein stimmungsvolles, behagliches Gefühl. Es entsteht eine Alltagsszene jener Zeit, in die man sich, trotz großen zeitlichen Abstands, mühelos hineinversetzen kann.
Man könnte annehmen, das zweite Werk »Herbstliche Allee im Tiergarten, Berlin« böte lediglich eine andere Perspektive desselben Ortes. Der Standpunkt der Betrachtenden habe sich bloß von der Verkehrsstraße auf die angrenzende Allee für Spaziergänger verschoben. In der Tat dürften beide Alleen nicht weit entfernt voneinander im Berliner Tiergarten gelegen haben und doch ergibt sich hier eine gänzlich andere Situation. Die dominanten Droschken und motorisierten Fahrzeuge befinden sich nun am Rande und begleiten damit eher das Geschehen des ruhiger gelegenen, zentralen Fußgängerweges. Auf diesem befinden sich vier Personen, jeweils im Vorder-, Mittel- und Hintergrund des Bildes. Eine Dame am linken Bildrand sitzend auf einer Parkbank, versunken in ein Schriftstück, eine weitere einzeln flanierende Dame sowie ein spazierendes Pärchen, ergeben ein sehr beispielhaftes Werk des Künstlers. Der Herbst ergießt sich mit seinen goldenen Farben über die Blätterdecke der Bäume. Einzelne Blätter fallen zu Boden und zeugen damit wiederum von einer Zeit des Wandels. Das Grün der Bäume ist im Hintergrund aber noch klar sichtbar und das Rot des Mantels wie auch das Türkis des Hutes bilden zarte, aber sehr wichtige Akzente in dem Farbklang dieser ganz wunderbaren Darstellung.
1 Karl Schwarz, zeitgenössscher Kunsthistoriker und Urys wohl längster und einziger Freund, zit. in: »Lesser Ury zum 50. Todestag«, Ausst.-Kat., Berlin 1981, S. 4.