Ernst Ludwig Kirchner
Akt auf Hocker (Kamerun) - Kauernde Dodo
ca. 1910
Bleistift auf Papier
34,5 × 27,5 cm
Rückseitig mit dem Basler Nachlassstempel versehen und "B Dre/Bg 64" und "K 2730" nummeriert
Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv Wichtrach/Bern dokumentiert
Nachlass des Künstlers; Galerie Nierendorf, Berlin (1966); Privatsammlung Wien
- Galerie Ludorff, "Drawn World: Zeichnungen von Menzel bis Warhol", Düsseldorf 2019
- Galerie Ludorff, "Muse & Modell", Düsseldorf 2014
- Galerie Ludorff, "Meisterwerke des Expressionismus", Düsseldorf 2011/2012
- Museum der Weltkulturen Frankfurt, "Ernst Ludwig Kirchner und die Kunst Kameruns", Frankfurt 2008
- Galerie Ludorff, "Drawn World. Zeichnungen von Menzel bis Warhol", Düsseldorf 2019, S. 70
- Galerie Ludorff, "Muse & Modell", Düsseldorf 2014, S. 10
1905 gründet Ernst Ludwig Kirchner gemeinsam mit Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Fritz Bleyl die Künstlervereinigung „Brücke“ in Dresden. Die angehenden Künstler verbringen ihre Freizeit am liebsten gemeinsam malend in der Natur. Es werden Ausflüge in die Umgebung, gerne an die Moritzburger Seen unternommen, um dort zu baden und die Sonne zu genießen. Kirchner hat immer sein Skizzenbuch zur Hand, um Situationen und Erlebnisse mit dem Stift rasch einzufangen. Sein Augenmerk richtet sich auf die Gesamtheit von Figur, Raum und Bewegung, um diese möglichst lebendig darzustellen. Die schnelle Notiz des Wahrgenommenen bleibt für Kirchner in allen Schaffensphasen bedeutungsvoll: „Ich lernte den ersten Wurf schätzen, so dass die ersten Skizzen und Zeichnungen für mich den großen Wert hatten. Was habe ich mich oft geschunden, das bewusst zu vollenden auf der Leinwand, was ich ohne Mühe in Trance auf der Skizze ohne weiteres hingeworfen hatte.“1) Kirchners Zeichnungen sind der eigentliche Mittelpunkt seines Schaffens, aus dem die Malerei wie die Druckgraphik abgeleitet werden.
Unsere Aktzeichnung stammt aus der Zeit um 1910, in welcher der Künstler seinen expressiven Zeichenstil entwickelt. Dieser ergibt sich aus der Entdeckung afrikanischer und ozeanischer Kunst im Dresdner Völkerkundemuseum. Auch interessiert sich der junge Künstler für indische und ostasiatische Kunst. „Diese Werke machten mich fast hilflos vor Entzücken. Diese unerhörte Einmaligkeit der Darstellung bei monumentaler Ruhe der Form glaubte ich nie erreichen zu können, alle meine Versuche kamen mir hohl und unruhig vor. Ich zeichnete vieles an den Bildern ab, um nur einen eigenen Stil zu gewinnen [...].“2)
Die kauernde Nackte ist seine Freundin “Dodo” – Doris Grosse –, sein bevorzugtes Modell der Dresdner Jahre. Die Begegnung mit Dodo ist für Kirchner außerordentlich prägend. Noch sieben Jahre nach der Trennung erinnert er sich an die Geliebte in einer Tagebuchnotiz vom 5. Juli 1919: “Deine feine frische Liebeslust, mit Dir erlebte ich Sie ganz, fast zur Gefahr meiner Bestimmung. Doch Du gabst mir die Kraft zur Sprache über Deine Schönheit im reinsten Bilde eines Weibes.”3) Mit kräftiger, ungebrochener schwarzer Linie ist die Frauengestalt gezeichnet und streng auf Kontur angelegt. Eine angespannte Dynamik und Energie, aber auch eine Leichtigkeit und Unbeschwertheit des Ausdrucks gehen von der Zeichnung aus, die den herausragenden Expressionisten verrät. Die gelöst fließende Linie erfasst als Grundelement der Gestaltung unter Weglassung der Details das Wesentliche. Dodos Nacktheit wirkt jedoch weder kokett oder aufreizend, noch nimmt sie eine Pose ein, wie sie für Aktmodelle charakteristisch ist. Das Motiv der Hockenden greift Kirchner öfter auf, auch in seinen Holzskulpturen. Der holzgeschnitzte Leopardenhocker aus Kamerun ist ein Geschenk von Erich Heckels Bruder Manfred, der als Ingenieur in Deutsch-Ost-Afrika gearbeitet hatte. Das räumliche Ambiente ist näher definiert, es handelt sich um Kirchners Wohnatelier, welches er mit selbstgestalteten Dekorationen und geschnitzten Skulpturen nach dem Vorbild primitiver Kunst ausgestattet hat, wie der Sammler Gustav Schiefler sich erinnert: „Er hatte sich in einer Vorstadtstraße Dresdens, der Not gehorchend, ein seltsames Atelier gemietet: einen engen Krämerladen, der sich mit einer großen Scheibe nach der Straße öffnete und neben dem ein kleines Gemach als Schlafraum diente. Diese Räume waren phantastisch ausgestattet.“4) Die Einrichtung hier dient dem alltäglichen Gebrauch und nicht der Ausschmückung mit dem Fremden. Kirchner möchte die Entfremdung von der Kunst aufheben und diese nicht nur als isolierte ästhetische Objekte sehen. Statt vor der Zivilisation zu flüchten, schafft sich Kirchner einen Freiraum, in dem er sein großes Ziel – die harmonische Verbindung von Leben und Kunst – vollziehen kann.
1 Ernst Ludwig Kirchner, „Die Arbeit E. L. Kirchners“, um 1925/26, in: Eberhard W. Kornfeld, „Ernst Ludwig Kirchner. Nachzeichnungen seines Lebens“, Bern 1979, rezitiert in: Magdalena M. Moeller/Roland Scotti (Hg.), „Ernst Ludwig Kirchner – Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Druckgrafik – Eine Ausstellung zum 60. Todestag“, Ausst.-Kat., München 1998, S. 12.
2 Zit. ebd. S. 101.
3 Nationalgalerie Berlin, „Ernst Ludwig Kirchner“, Ausst.-Kat., Berlin 1980, S. 121.
4 Magdalena M. Moeller (Hg.), „Von Dresden nach Davos – Ernst Ludwig Kirchner Zeichnungen“, Ausst.-Kat., München 2004, S. 72.