Ernst Ludwig Kirchner

Mädchen mit Spiegel
1910

Ernst Ludwig Kirchner, Mädchen mit Spiegel

Grafit auf Papier

20 × 17 cm

Rückseitig signiert, betitelt und mit dem Nachlassstempel "Nr. 46 aus dem Nachlass von Fräulein Lise Gujer, Davos-Serti[g] 13.3.1967" gestempelt

Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv Wichtrach/Bern dokumentiert

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Provenienz

Nachlass Lise Gujer, Davos (1967); Lempertz, Köln, Kat. 390 (1969); Privatsammlung USA

Ausstellungen
  • Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Herbst 2021", Düsseldorf 2021
Literatur
  • Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Herbst 2021", Düsseldorf 2021, S. 54

In der für ihn typischen Art, mit wenigen, kraftvoll gesetzten Strichen in Grafit und ohne Binnenzeichnung fängt Ernst Ludwig Kirchner in dieser grandiosen Zeichnung ein Mädchen ein, das sich mit Spiegel in der Hand Lidschatten oder Kajal aufträgt. Ihre großen Augen, ihre markante Nase und sinnlichen, vollen Lippen werden von gescheiteltem, schulterlangem Haar eingerahmt.

Kirchner zeigt uns hier keine steife, akademische Pose, sondern hält – ähnlich wie bei seinen berühmten »Viertelstundenakten« – eine eher zufällige und dadurch sehr spontan und lebendig wirkende Situation fest. In dieser wundervollen Zeichnung kann man die Vitalität und den kraftvollen Duktus erkennen, der für sein Schaffen kennzeichnend ist.

Ernst Ludwig Kirchner, der nach einem Architekturstudium, als Autodidakt zu malen und zeichnen beginnt, gründet 1905 zusammen mit Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Fritz Bleyl eine der einflussreichsten Künstlergruppen des 20. Jahrhunderts: Die Brücke. Sein Dresdner Atelier, ein »Tempel der Lust«1, ist Treffpunkt der deutschen Avantgarde. Hier entstehen Gemälde und vor allem Zeichnungen, die in kürzester Zeit – nämlich in von den Künstlern proklamierten fünfzehn Minuten – natürliche Bewegungen in gekonnt gesetzten Strichen einfangen. 1911 verlässt Kirchner Dresden, um in die Hauptstadt Berlin zu ziehen. Dort, im Großstadtgetümmel, verändert sich sein Stil: die Linien werden scharfkantig und seine Pinselstriche fedrig. Kirchner saugt die Motive der Stadt in sich auf und bannt sie auf Leinwände und Papier. Zum umfangreichen Œuvre Kirchners gehören auch die eindrucksvollen Bildteppiche, Wirkereien und Stickereien, die der Künstler ab 1922 bis zu seinem Tod entwirft und die zur Hauptsache von der Schweizer Weberin Lise Gujer (1893-1967) kongenial ausgeführt werden.2 Aus deren Sammlung stammt unser Werk »Mädchen mit Spiegel«. Zwischen Gujer und Kirchner entsteht ab den 1920er Jahren eine nicht immer leichte, aber enge und letztlich fruchtbare Zusammenarbeit, die der Künstler mehrfach in seinem Davoser Tagebuch erwähnt. Gujer war es auch, die dieses Tagebuch nach dem Tod Kirchners verwahrte.3 Zudem fungierte sie als wichtige Beraterin beim Um- und Ausbau des Wildbodens, Kirchners Schweizer Atelier, nachdem Eberhard Kornfeld es 1962 erwerben konnte.4 Die »Gruoba«, Gujers Haus in Davos-Sertig, das sie 1940 bezog und in dem zeitweise auch Erna Kirchner wohnte, wurde nach dem Tod des Künstlers zum Wallfahrtsort für Kirchner-Begeisterte. Dort befanden sich zahlreiche Ölbilder, Zeichnungen, Aquarelle und Schubladen voller Kirchner-Skizzen, die Lise Gujer über die Jahre vom Künstler erhalten oder gesammelt hatte.5 Einen Teil dieser wertvollen Sammlung hat die Weberin in einem Paket verschnürt, das erst 1998, dreißig Jahre nach ihrem Tod, geöffnet werden durfte. Es enthielt zahlreiche Skizzen und Entwürfe Kirchners zu den Wirkereien. Heute befindet sich das Konvolut im Bündner Kunstmuseum. Sie hatte es wohl versiegelt, »um Nachahmungen ihrer eigenen Arbeiten zu vermeiden.«6 Auch auf unserem Blatt befindet sich der auf den Tag nach ihrem Tod datierte Nachlassstempel. Die Zeichnung ist Zeugnis einer lang­jährigen Freundschaft und künstlerischen Zusammenarbeit, zudem erkennt man in der genauen und schnellen Beobachtung der Szene und deren beeindruckender Umsetzung auf dem Papier Kirchners Meisterschaft als Zeichner. Der Künstler schreibt unter einem Pseudonym über diese zentrale Technik seines Œuvres: »Er [Kirchner] nutzt dazu die ganze Fläche des betreffenden Blattes. Nicht nur die Linien und die von ihnen gebildeten Formen, sondern auch die unbezeichnet bleibenden Teiles des Blattes formen das Bild.«7

1 Felix Krämer, »Vorwort«, in: »Ernst Ludwig Kirchner – Retrospektive«, Ausst.-Kat. Ostfildern 2010, S. 15.

2 Siehe hierzu die sehr aufschlussreiche Publikation, die im Rahmen der Ausstellung »Bildteppiche von Ernst Ludwig Kirchner und Lise Gujer: Unbekannte Entwürfe und Vorlage« des Bündner Kunstmuseums in Chur erschienen ist: Beat Stutzer (Hg.), »Bildteppiche von Ernst Ludwig Kirchner und Lise Gujer. Ein Werkkatalog der Entwürfe«, Ausst.-Kat. Bündner Kunstmuseum Chur, Zürich 2009.

3 Beat Stutzer, » Ein Art zu malen«. Zu Kirchners Entwürfen für Bildteppiche«, in: ebenda, S. 11.

4 Eberhard W. Kornfeld, »Die Weberin Lise Gujer«, in: Beat Stutzer (Hg.), »Bildteppiche von Ernst Ludwig Kirchner und Lise Gujer. Ein Werkkatalog der Entwürfe«, Ausst.-Kat. Bündner Kunstmuseum Chur, Zürich 2009, S. 42.

5 Ebenda S. 40ff.

6 Vgl. Anm. 3, S. 12.

7 L. De Marsalle: Zeichnungen von E. L. Kirchner, in: Lothar Grisebach: »E. L. Kirchners Davoser Tagebuch, Eine Darstellung des Malers und eine Sammlung seiner Schriften«, Köln 1968, S. 185.

Über Ernst Ludwig Kirchner

Der expressionistische Maler Ernst Ludwig Kirchner war Mitbegründer der Künstlervereinigung »Brücke«, in deren Schaffensfokus das Medium der Zeichnung stand.

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