Lesser Ury
An der Havel in einem Gartenrestaurant
ca. 1925
Öl auf Leinwand
32,3 × 24,5 cm
Signiert und rückseitig mit dem Nachlassetikett versehen und "362" nummeriert
Aufgenommen in das in Vorbereitung befindliche Werkverzeichnis der Gemälde, Pastelle, Gouachen und Aquarelle von Dr. Sibylle Groß, Berlin
Gutachten von Frau Dr. Sibylle Groß, Berlin
Nachlass des Künstlers, Berlin; Else Pinkus, Schwiebus / Buenos Aires; Privatsammlung Argentinien
Nach einem Studium der Malerei in Düsseldorf und einer langjähriger Reise durch Europa zieht es den preußischen Künstler Lesser Ury im Jahre 1887 zurück nach Berlin, die Stadt seiner Jugend. Schnell stellt er fest, dass sich das Gesicht der Metropole während seiner Abwesenheit grundlegend verändert hat. Zu den Pferdebahnen und -droschken gesellen sich nun immer häufiger auch elektrische Straßenbahnen und vereinzelt Automobile. Neue Stadtviertel sind entstanden. Gaslaternen erhellen die Geschäfte und Gehsteige auch am späten Abend. Der junge Maler zeigt sich von diesen Neuerungen tief beeindruckt und besonders das bewegte, nächtliche Straßenleben fasziniert ihn. In der malerischen Schönheit der Nacht findet er eines seiner bevorzugten Sujets, welches er in der Folge immer wieder variiert und ausbaut. Was ihn besonders beeindruckt, ist das Aufflammen der Lichter aus der Dunkelheit in den nächtlichen Straßen und Caféhäusern, etwas das die Franzosen, die zu jener Zeit größtenteils die Tageshelligkeiten wiederzugeben suchen, nicht darstellen und so versucht er, eben jene Effekte in einer Reihe kleiner Ölbilder möglichst genau wiederzugeben. Das Gemälde »An der Havel in einem Gartenrestaurant « ist eines von Diesen. Unter freiem Himmel sitzen die Menschen hier ins Gespräch vertieft und genießen die letzten Stunden eines lauen Sommerabends. Im Vordergrund des Bildes erkennt man ein Pärchen, welches, jeweils vor einem Glas Wein sitzend, angeregt zu diskutieren scheint. Umfangen vom Licht einer Gaslaterne, gruppieren sich um die zwei Personen herum weitere Gäste des Lokals, um die milde Nacht am Ufer der Havel zu genießen, welche ruhig im Hintergrund des Bildes dahinfließt. Die starke Flächigkeit des dunklen, in Schwarzund Blautönen gehaltenen pastosen Hintergrundes, in welchem sich Fluss, Ufer und Nachthimmel positionieren, steht im starken Kontrast zu dem erhellten und sehr lebendigen Vordergrund des Bildes. Allein die bunten Farbtupfer des Blumenbouquets und der Gaslaterne sowie die goldgelben Lichtreflexe auf dem Wasser scheinen zwischen den beiden Bildräumen vermitteln zu wollen. Diese gezielt eingesetzten Flecken von intensiver Farbigkeit, sind nicht im Sinne eines impressionistischen Programms zu verstehen. Vielmehr versucht Ury den Tonwert der Farbe direkt zu fixieren. Anhand solcher Details zeigt sich seine Meisterschaft im Darstellen von gleichzeitig alltäglichen Darstellungen und atmosphärischen Phänomenen. Ganz in der Tradition Adolph Menzels, doch mit sehr viel stärkerem Interesse für malerische Lichtbrechungen und Beleuchtungseffekte, gelingt es ihm so wie kaum einem anderen impressionistischen Künstler um 1900, den Zeitgeist der Belle Époque immer wieder aufs Neue zu erfassen. Keiner vor oder nach Ury hat das Aufreizende und Nervenprickelnde des mondänen Lebens einer Großstadt in seiner kaleidoskopartigen Bewegung so eindringlich und in immer neuen Variationen wiedergegeben. Es sind keine Szeneschilderungen, sondern optische Erlebnisse, die er mit einer außergewöhnlichen Sensitivität einzufangen weiß.