Ernst Ludwig Kirchner
Hafen (Fehmarn)
ca. 1908
felt-pen and ink on paper
11.6 × 17.3 cm / 4 9/16 × 6 13/16 in
Signed; also marked with the Basel estate stamp and inscribed »F Dre/Aa 2« on the verso
The work has been registered by the Ernst Ludwig Kirchner Archiv Wichtrach/Bern
The artist’s estate; Felix Landau Gallery, Los Angeles; Collection Amalia de Schulthess, Santa Monica; Private Collection USA (by inheritance)
- Galerie Ludorff, Neuerwerbungen Frühjahr 2022, Düsseldorf 2022
- Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Frühjahr 2022", Düsseldorf 2022, S. 69
Die Zeichnungen Ernst Ludwig Kirchners sind der Schlüssel zu seinem gesamten Werk. Ob im Atelier oder unterwegs der 1880 in Aschaffenburg geborene Künstler zeichnet wann und wo immer es ihm möglich ist. Unter dem Pseudonym des französischen Kunstkritikers Louis de Marsalle schreibt er über seine Art des Arbeitens, dass die »lebendige Kraft« des Willens, die all seinen Gemälden und Grafiken innewohnt, nur durch das Zeichnen komme, denn dieser Akt sei »die erste Niederschrift des künstlerischen Erlebnisses«.1
Ab 1906 intensiviert sich das Expressive und der schnelle, spontane Duktus in Kirchners Werk. Mitunter greift er dabei auf die Linien und Flächensprache Edvard Munchs zurück, aber auch die Arbeiten Gustav Klimts, die er erstmals 1907 in Dresden studieren kann, beeinflussen seinen Stil sehr. Ab 1908 erhält seine Kunst durch die Konfrontation mit den Werken der französischen Fauvisten, allen voran Vincent van Gogh2, eine neue Qualität, die besonders schön in unserer kleinen Zeichnung von 1908 sichtbar wird.
Mit schnellem, sicherem Strich skizziert Kirchner eine belebte Hafenszene, die trotz der dynamischen und kraftvollen Pinselführung ein Gefühl friedlicher Leichtigkeit vermittelt. Auch wenn es sich nur vermuten lässt, so haftet der hübschen Zeichnung doch die Wärme eines unbeschwerten Sommertages an. Die kurzen Schatten der Figuren am rechten Bildrand deuten an, dass die Sonne hoch im Zenit stehen muss. Geschäftig gehen sie ihren Arbeiten nach und be- oder entladen über einen schmalen Pier einen kleinen Dampfer in der Bildmitte. Rauch kommt aus seinem Schornstein und zieht sich vor der scheinbar dunkel bewaldeten Hügelkette im Hintergrund zum offenen Wasser hin entlang.
Bis 1911 lebte der Künstler in Dresden, 1908 verbrachte er die Sommermonate das erste Mal auf der Ostseeinsel Fehmarn. Die malerische Natur mit den wilden Küstenstreifen und das unbeschwerte Inselleben faszinieren ihn und lassen ihn bis zum Ausbruch des Krieges noch mehrere Male hierhin zurückkehren. Anhand der Arbeiten, die auf Fehmarn entstehen, zeigt sich besonders gut der dem Einfluss Van Goghs zu verdankendem Umschwung in der räumlichen Auffassung. Die Arbeiten zeigen eine aufgewühlte Sprache. Rasches Festhalten des Motivs und formale Kürzel bestimmen den Stil. Bei genauerer Betrachtung enthüllen sie eine absichtsvolle Spannung zwischen Fläche und Raum, Nähe und Ferne, Hell und Dunkel.
1 Zit. nach Ernst Ludwig Kirchner, in: Magdalena M. Moeller, »Ernst Ludwig Kirchner. Zeichnungen und Aquarelle«, München 1993, S. 9.
2 Im Frühjahr des Jahres 1908 bot sich Kirchner die Gelegenheit, die Arbeiten des Niederländers im Zuge einer umfassenden Retrospektive in der Galerie Richter in Dresden zu studieren.