Gabriele Münter
Murnau - Frühlingsstudie mit Kirchturm
1924
Öl auf Karton
32,7 × 44,6 cm
Signiert und "19.V.1924" datiert sowie rückseitig mit dem Nachlassstempel versehen, betitelt und datiert
Aufgenommen in das in Vorbereitung befindliche Werkverzeichnis von Dr. Isabelle Jansen, Stiftung Gabriele Münter und Johannes Eichner
Atelier der Künstlerin; Nachlass der Künstlerin, Nr. 116 (Aufkleber rückseitig); Leonard Hutton Galleries, New York; Privatsammlung Chicago; Hauswedell & Nolte, Hamburg, 16. Juni 1973, Los 1421; Privatsammlung Europa (1988); Villa Grisebach, Berlin, 3. Juni 1988, Los 144; Christie’s, London, Los 524, 28. Februar 2018, Los 524; Privatsammlung USA; Privatsammlung Deutschland
- Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Herbst 2020", Düsseldorf 2020
- Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Herbst 2020", Düsseldorf 2020, S. 98
Die 1920er Jahre, in denen unser Gemälde entsteht, waren eine Zeit der Umbrüche, Umzüge, Neufindungen und des Aufbruchs für Gabriele Münter. »Gabriele Münter war in dieser Zeit viel unterwegs, sie sprach mittlerweile fünf Sprachen, hatte ein weitreichendes Netzwerk und befasste sich mit diesen neuen Kunsttendenzen.«1 Gemälde aus diesem Jahrzehnt, wie »Murnau – Frühlingsstudie mit Kirchturm«, sind selten, denn Münter malte in dieser Zeit sehr wenig.2 Während ihres Aufenthaltes in ihrem Haus in Murnau greift sie jedoch zum Pinsel und fängt eine eindrucksvolle Ansicht des kleinen Ortes in Bayern ein. Ab 1909 war das sogenannte »Russenhaus« in der Kottmüllerallee, das sie sich von ihrem Erbe kaufte und wo sie mit ihrem Lebenspartner Wassily Kandinsky zusammenlebte, Treffpunkt für Sammler und Galeristen, aber vor allem für viele Künstler der Avantgarde: Franz Marc, Alexej von Jawlensky, Marianne von Werefkin, August Macke und Komponist Arnold Schönberg. Für Münter war der Umzug aufs Land an den Staffelsee ein wichtiger Einschnitt in die Weiterentwicklung ihres Werkes. So notiert sie 1911 in ihrem Tagebuch: »Ich habe dort [in Murnau] nach kurzer Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht, vom Naturabmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen eines Inhalts, zum Abstrahieren, zum Geben eines Extraktes.«3
Hier hat sie die volkstümliche Hinterglasmalerei entdeckt, die ihr mit ihrer auf einfache Farb- und Formgefüge reduzierte Darstellungsweise den Weg zu ihrem neuen prägnanten Malstil ermöglichte und nachhaltig prägte.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs und der Trennung von Kandinsky 1917 kehrt Münter erst 1920 aus Skandinavien nach Deutschland zurück. Als unser Gemälde entsteht - ein Jahrzehnt nach der Auflösung des Blauen Reiters – erkennt man noch den Einfluss der Hinterglasmalerei mit seinen klar begrenzten Farbflächen und teils dunklen Umrisslinien, sieht aber auch die klare Weiterentwicklung Münters Stils zu einer neuen, zarteren Malweise. Zu sehen ist eine prominente Ansicht des Ortes Murnau mit Kirche, die auch Kandinsky mehrmals malte und die die Künstlerin hier für sich neu interpretiert. Im oberen Zentrum des Bildes ragt die Kirche St. Nikolaus aus den Häusern und Bäumen hervor. Im Vordergrund befinden sich Wiesen und der Hintergrund zeigt die Bergketten der Umgebung sanft eingebettet in die zarten Farben des sommerlichen Abendhimmels, die sich in den vereinzelten Wolkenbändern wiederfinden. Auch dieses Gemälde beweist das Können der Malerin und ihre besondere Umsetzung des Gesehenen in die Malerei. Gabriele Münter erhält heute endlich die ihr zustehende Anerkennung als eine wichtige Künstlerin der Moderne. Auch wenn sie als Frau lange im Schatten ihrer männlichen Künstlerkollegen, allen voran ihrem Lebensgefährten Wassily Kandinsky, stand, würdigt man mittlerweile ihren großen Anteil an der Entwicklung und der Bekanntmachung der Künstlergruppe »Der Blaue Reiter«.
1 Vgl. Isabelle Jansen, »Eine neue Sehweise? Gabriele Münter und die Gegenständlichkeit der Zwanzigerjahre« in: Isabelle Jansen (Hg.), »Gabriele Münter 1877-1962 Malen ohne Umschweife«, München 2018, S. 199-204, S. 200.
2 Laut Jansen malte Münter in den 1920ern nur ca. 120 Gemälde. Vgl. Isabelle Jansen, »Eine neue Sehweise? Gabriele Münter und die Gegenständlichkeit der Zwanzigerjahre«, in: Isabelle Jansen (Hg.), »Gabriele Münter 1877-1962 Malen ohne Umschweife«, München 2018, S. 199-204, S. 200.
3 Eintrag im Tagebuch der Künstlerin 1911.