Lesser Ury
Allee im Berliner Tiergarten (Rote Allee)
1902
Pastell auf Malkarton
49,5 × 34 cm
Signiert, datiert und "Seinem l[ieben] verehrten Freunde Servaes" gewidmet
Aufgenommen in das in Vorbereitung befindliche Werkverzeichnis der Gemälde, Pastelle, Gouachen und Aquarelle von Dr. Sibylle Groß, Berlin
Dr. Sibylle Groß, Berlin
Atelier des Künstlers; Franz Servaes, Berlin/Wien (Geschenk des Künstlers); Naftalin (Natali/Natalio) & Antonie Plattring, Berlin; seitdem in Familienbesitz, USA
- Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Herbst 2021", Düsseldorf 2021
- Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Herbst 2021", Düsseldorf 2021, S. 132
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke, »Herbst«1
Der Berliner Künstler Lesser Ury zählt zu den bedeutenden Wegbereitern des Impressionismus in Deutschland. Kaum ein anderer hat das mondäne Leben der Großstadt Berlin um die Jahrhundertwende so eindringlich wiedergegeben wie er. Die besondere Behandlung des Lichts zeichnet dabei sein Werk aus. Zu unterschiedlichen Tageszeiten - im Licht der gleißenden Sonne oder im Dunkel der Nacht - und unter veränderten Witterungsverhältnissen entwirft er zahlreiche Ansichten der europäischen Metropolen, allen voran, seiner Heimatstadt Berlin.
Ansichten von Berlin zeigen auch unsere beiden Neuerwerbungen, die dem Betrachter – passend zur Jahreszeit – besonders stimmungsvolle, herbstliche Szenen präsentieren. Die »Allee im Berliner Tiergarten (Rote Allee)« von 1902 zeigt uns einen stürmischen Nachmittag im Herbst. Die Blätter der Bäume haben ein helles Rostrot, Orange oder Gelb angenommen. Entgegen Urys sonst oft von mehreren Menschen bevölkerten Bildern, ist der Berliner Park menschenleer. Meisterhaft suggerieren die vereinzelt über den Fußweg, die Bäume und den Himmel verteilten starken Pastellstriche die Windböen, welche die Blätter von den Ästen wehen.
Unwillkürlich mag man bei dem Anblick an Rilkes berühmte Verse über den Herbst denken, die er zur selben Zeit in Paris verfasste. Sie legen Zeugnis ab über die Melancholie dieser Jahreszeit und das Gefühl des Abschieds, die uns auch in Urys großartigem Pastell begegnen.
Das Werk »Alexanderplatz, Berlin«, entstanden zwischen 1915 und 1920, besticht durch die fast fühlbare Nässe und Hektik eines kühlen Herbst- oder Wintermorgens. In dicke Mäntel gekleidete Passanten laufen mit aufgespanntem Schirm über regennassen Asphalt. Am Himmel formieren sich dunkelgraue Wolken. Am Boden steuern zwei Pferdedroschken eilig unbekannten Zielen entgegen. Im oberen Bilddrittel fährt auf einer Hochbrücke von rechts ein Zug ein, dessen Kesseldampf hinunter zu den Menschen auf der Straße wabert. Durch den partiell dünneren und flüssigeren Farbauftrag sowie die Auflösung der Konturen im Bereich des Wassers auf der Straße gelingt es ihm, die flüchtige Regenstimmung einzufangen. Fast meint man, den rieselnden Regen zu spüren. Die Glanzlichter, die sich in den Pfützen auf der Straße spiegeln und die Darstellung des Windes, der, von links kommend, die letzten Blätter von den fast kahlen Ästen fegt und sich in dem wolkenverhangenen, grauen Himmel sowie dem sich nur langsam verflüchtigenden Dampf des Zuges manifestiert, verstärken diesen Eindruck.
In diesem Gemälde gelingt Ury die Schilderung eines besonders lebhaften und vielseitigen Moments. Er fängt die komplexen atmosphärischen Gegebenheiten meisterlich ein und zeigt hier sein ganzes Können, die Naturgewalten in Szene zu setzen. Einhellig spiegeln sich in diesen zwei Werken die drei großen Themen wider, die Lesser Ury Zeit seines Lebens begleiten: die Großstadt, die stille Natur und das Monumentale. Die Metropole wird dabei zu Urys bevorzugtem künstlerischen Motiv. Immer wieder durchstreift er seine Umgebung, fängt als stiller Beobachter das städtische Leben ein und entdeckt in alltäglichen Erscheinungen das Besondere, an dem die meisten Menschen achtlos vorübergehen. In seinen Bildern macht er dies sichtbar und uns auf die verborgen gebliebene Schönheit dieser Momente aufmerksam.
Dabei sind es »keine Szenenschilderungen, sondern optische Erlebnisse«2, die Ury mit einer unglaublichen Sensitivität empfindet und an uns Betrachtende weitergibt. Beinahe unwillkürlich finden wir uns beim Anblick seiner Bilder daher in der Szenerie wieder, mit einem genauen Gefühl für die Stimmung dieses einen Moments.
Während Urys Arbeiten heutzutage Höchstpreise erzielen, erlebte er selbst seinen Ruhm erst spät. Als Individualist und Einzelgänger fand er zu Lebzeiten unter den Kollegen und Kritikern nur schwer Zugang zu den führenden Kreisen. Die Missgunst seines einstigen Protegés Max Liebermann spielte hierbei eine nicht untergeordnete Rolle. Doch auch seine künstlerische Herangehensweise an Motive und Gestaltung irritierte seine Zeitgenossen. Zwar bediente sie die damaligen Sehgewohnheiten, jedoch nur um sie im nächsten Moment wieder in Frage zu stellen. Erst 1921, zehn Jahre vor seinem Tod, wurde Lesser Ury zum Ehrenmitglied der Berliner Secession ernannt.
1 Rainer Maria Rilke, »Herbst«, in: »Das Buch der Bilder«, Berlin 1902.