Max Ernst
L'oiseau
1931
Frottage, Bleistift auf Papier
Darstellung: 19 × 12 cm
Blatt: 26,7 × 21 cm
Signiert
Werkverzeichnis Spies/Metken 1979 Nr. 1750
Goodman Gallery, London; Roland, Browse & Delbanco Gallery, London (1946); Sammlung George Melly, London; F. H. Mayor Gallery, London; Sotheby's, London (Auktion 7. Apr. 1976, Los 161); Privatsammlung Pennsylvania (1976-2022)
- Galerie Ludorff, Neuerwerbungen Frühjahr 2023, Düsseldorf 2023
- Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Frühjahr 2023", Düsseldorf 2023, S. 28
- Galerie Ludorff, "Kunst im Rheinland", Düsseldorf 2023, S. 20
- Werner Spies/Sigrid & Günter Metken, "Max Ernst Œuvre-Katalog Werke 1929-1938", Bd. IV, Houston/Köln 1979, S. 359
Beinahe traurig, vielleicht sogar vorwurfsvoll schaut uns der Vogel aus der Bildmitte heraus an. Dem Aussehen nach zu urteilen, könnte es sich bei dem kleinen Gesellen um einen Sperling oder Finken handeln. Der Vogel sitzt vor einer gitterartigen Struktur, deren Zwischenräume zu seinen Füßchen recht schmal, vor seinem Oberkörper breiter erscheinen. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch, dass diese exakt gleich groß sind. Dieser Illusion liegt der Umstand zugrunde, dass der Künstler die Zwischenräume der dem Papier unterliegenden Textur unterschiedlich stark schraffiert.
Als Mitbegründer der Kölner Dada-Bewegung und Wegbereiter des Surrealismus war Max Ernst stets auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Mit Hilfe verschiedener Techniken, wie in diesem Fall der Frottage, entstehen ab 1925 Papierarbeiten, in welchen der Künstler zufällige Oberflächenstrukturen als Inspirationsquelle für Landschaften, Figuren und Gegenstände nutzt. Die untergelegten Materialien, so zum Beispiel Holzbretter, Blätter, raue Wandflächen, Stroh oder, wie es in unserer Arbeit »L‘oiseau« anmutet, eine Art Kamm, verlieren durch das Verfahren des Durchriebs weitgehend ihre Identität. Die Strukturen werden ihnen entwendet und in neuen Zusammensetzungen für eine fantasievolle Bildsprache herangezogen. Das Ergebnis dient als Ausgangspunkt für zahlreiche gegenständliche Assoziationen und Deutungen und evoziert hier die Vorstellung eines Vogelkäfigs.
Zeit seines Lebens ist der Vogel, insbesondere der gefangene, eines der zentralen Motive in dem Œuvre von Max Ernst. Wenn man seinen Selbstbeschreibungen Glauben schenken darf, so liegt das Initialereignis für diese idée fixe in seinen frühen Kindheitsjahren. So geht nämlich der Tod seines Lieblingsvogels Hornebom mit der Geburt seiner Schwester Loni einher. Der Vogel kann somit einerseits als Sinnbild für Max Ernsts Verständnis von der Verstrickung von Geburt und Tod, Leben, Liebe und Leid verstanden werden. Andererseits spiegelt jene Kindheitsgeschichte den Ursprung all seiner Inspiration wider, in deren Zentrum Erkundungen unserer selbst und der Welt stehen, die Inspiration und Möglichkeiten bieten für neue, teils überraschende, teils irritierende und gleichzeitig poetische, uns verzaubernde Welten.
Im unteren Viertel der Zeichnung, welches den dunkelsten Part des Werkes bildet, erkennt man das Wort »Vidalon«. Jeder möglichen surrealistischen Deutungsebene fern, handelt es sich hierbei um den Durchrieb des Wasserzeichens des Papieres. In Vidalon, einem Bezirk der Gemeinde Davézieux auf der Hochebene des nördlichen Ardèche-Piemonts, war ab dem 17. Jahrhundert eine wichtige Papiermühle.