Lesser Ury
Brücke im Mondschein – London
1926
Öl auf Leinwand
34 × 24,1 cm
Signiert und rückseitig mit dem Nachlassstempel versehen und "288" nummeriert
Aufgenommen in das in Vorbereitung befindliche Werkverzeichnis der Gemälde, Pastelle, Gouachen und Aquarelle von Dr. Sibylle Groß, Berlin
Gutachten von Frau Dr. Sibylle Groß, Berlin
Nachlass des Künstlers; Galerie Paul Cassirer, Berlin (Nachlassauktion 21.10.1932, Nr. 113); Sammlung Moritz Loebenstein; Nachlass Loebenstein
- Galerie Ludorff, Neuerwerbungen Frühjahr 2021, Düsseldorf 2021
- Paul Cassirer, "Der künstlerische Nachlass von Lesser Ury – Auktionsausstellung", Berlin 1932
- Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Frühjahr 2021", Düsseldorf 2021, S. 150
- Galerie Ludorff (Hg.), "Meisterwerke", Ausst.-Kat., Düsseldorf 2020, Installationsansicht, S. 076
In den zwanziger Jahren führen Lesser Ury wiederholte Auslandsaufenthalte durch verschiedene europäische Städte und von jeder dieser Reisen bringt er zahlreiche Eindrücke und eine Fülle an gemalten Impressionen mit. Auch in London macht Ury im Herbst 1926 für zwei Wochen Station. Er logiert in einem der besten Hotels, mitten im Zentrum der Stadt, aus dessen Räumlichkeiten sich ihm ein weitschweifender Blick auf die Themse und ihre Brücken eröffnet. 1)
Die geographische Gegebenheit der Stadt – ihre Lage im Londoner Becken zu beiden Seiten des Flusses – und die klimatischen Verhältnisse, die der Stadt viel Niederschlag bescheren und oftmals in einen geheimnisvollen Nebelschleier tauchen, üben auf den Künstler eine große Faszination aus, denn „was wäre das nächtliche London ohne schlechtes Wetter? Eine Stadt wie alle anderen! So aber ist es bei jenem feinen Sprühregen, der mehr feuchte Luft als Tropfenfall ist, ein verzauberter Bezirk, um den hohe Bogenlampen in perlmutterfarbenem Schein hängen. Das Schwarze wird um diese Stunde noch schwärzer, und die glatten, ganz schmucklosen Häuserfronten sind plötzlich kimmersche Felsenwände, an denen die Feuchtigkeit des Vergessens herunterrieselt. Das Weiße wird noch weißer, die Türrahmen aus lackiertem Holz und die Stufen aus hellem Stein leuchten nackt und erschreckend durch die triefende Nacht […] und um jedes Licht steht der Regen wie ein fliegender Heiligenschein.“2)
Ury, der sich in seiner Kunst den atmosphärischen Licht- und Spiegelreflexen verschrieben hat, findet in der britischen Hauptstadt Inspiration und Motive vor, die ihn in einen wilden Schaffenstaumel stürzen: „[…] ich ging nach der Themsestadt, um zu arbeiten, um Stimmungen zu malen. Und es war gar nicht leicht, die feurige, silbrige, graublaue Luft zu malen, die gar nicht zu fassen ist und die eigentlich im Nebel verfließt. Brücken, Häuser, Schiffe, Menschen: alles wird hier von einem zarten weißen Schleier eingehüllt […].“3) Unter dem Eindruck der für London spezifischen, insularen Lichteffekte malt er die Themse und ihre Brücken in den Morgen- oder Abendstunden, in der Mittagssonne oder in der tiefschwarzen, verregneten Nacht.
Auch in unserem Ölgemälde „Brücke im Mondschein“ bleibt Ury seiner in Berlin verfeinerten Bildthematik der nächtlichen Großstadt treu. Vom Flussufer aus beobachtet er das sich allabendlich wiederholende Naturspektakel, wie sich die Nacht über das Stadtzentrum senkt und alles in Dunkelheit taucht. Es ist Vollmond über London, die runde Scheibe steht hoch am düsteren Nachthimmel. Feine, von der Themse aufsteigende Schwaden feuchten Dunstes ziehen beständig am Mond vorüber und hüllen ihn in einen nebeligen Schleier. Die Gebäude am Flussufer sind eng zusammengerückt und zu einem schwarzen Band verschmolzen, einzig Big Ben, der Uhrenturm vom Westminster-Palast, ragt hoch hinaus und wirkt wie ein steinerner Fingerzeig in Richtung des weiten, unendlichen Himmelszeltes. Nur spärlich erhellen die erleuchteten Fenster und Straßenlaternen das Dunkel der Nacht und zaubern dennoch ein flimmerndes Lichtspiel auf die Wasseroberfläche, auf der sich auch das fahle Licht des Mondes spiegelt.
In diesem kleinen hochrechteckigen Format, das der Weite des Nachthimmels Rechnung trägt, bannt Ury meisterlich mit fein abgestuften Farbnuancen seine Vision der Wiedergabe von Atmosphäre, Luft und Lichtreflexen auf die Leinwand.
Anmerkungen.:
1) Vgl. Hermann Schlögl/Karl Schwarz, „Lesser Ury – Zauberer des Lichts“, Ausst.-Kat., Käthe-Kollwitz-Museum, Berlin 1995, S. 52
2) Friedrich Sieburg, „Blick durchs Fenster – Aus 10 Jahren Frankreich und England“, Stuttgart 1939, rezitiert in: Harald Raykowski (Hg.), „Reise Textbuch London. Ein literarischer Begleiter auf den Wegen durch die Stadt“, München 1986, S. 25/26.
3) Schlögl/Schwarz, S. 52.