Winfred Gaul
Ohne Titel
1958
Tempera und Collage auf Leinwand
110 × 65 cm
Rückseitig signiert und "12-1-58" datiert
Werkverzeichnis Gaul 1991 Nr. 136
Atelier des Künstlers; Privatsammlung Nordrhein-Westfalen
- Galerie Ludorff, "Meisterwerke", Düsseldorf 2020
- Galerie Ludorff, "Meisterwerke", Düsseldorf 2020, S. 44
- Winfred Gaul (Hg.), "Winfred Gaul. Werkverzeichnis Bd. II Gemälde und Arbeiten auf Papier 1949-1961", Düsseldorf 1991, G136
Als der über sechzigjährige Winfred Gaul sein Werkverzeichnis vorbereitete, stellte er zwei Stillleben von 1950 an den Anfang seines gültigen Schaffens. Die beiden kleinformatigen Bilder stammen aus seiner ersten Zeit an der Akademie in Stuttgart, wo er bis 1953 bei Willi Baumeister (Vgl. S. 22) studiert hatte. Bis 1954 gibt es Gemälde, deren Bildsprache und Titelwahl durchaus noch figürliche Assoziationen zulassen. Ab 1955 entstand im eigenen Atelier in Düsseldorf ausschließlich ungegenständliche Malerei, Gaul schloss sich der »Gruppe 53« an und wagte sich nun auch an größere Formate. In den Jahren 1955 bis 1960 malte er eine umfangreiche Gruppe von Werken, mit denen er sofort sehr bekannt wurde: Winfred Gaul galt als sehr vielversprechender junger Maler, es begleitete ihn bald der Ruf eines der wichtigsten deutschen Vertreter der die Szene dominierenden Informellen Malerei. Die Krönung dieser ersten stark beachteten Phase war 1959 die Einladung zur documenta 2 in Kassel, an der neben den Pionieren der klassischen Moderne auch alle wichtigen abstrakten Expressionisten aus Nordamerika und Europa teilnahmen; Gaul war einer der jüngsten Teilnehmer.
Unser auf den 12. Januar 1958 datiertes Werk leitet eine überaus produktive Phase ein, es entstand in jenem Jahr eine Gruppe von fast 40 Gemälden, zu deren letzten auch zwei gehörten, die im Folgejahr 1959 an der documenta gezeigt wurden. Das große, vergleichsweise schmale Hochformat ist ein erstes Hauptwerk dieser Gruppe, es zeigt vieles, was für diese typisch ist, und hat doch auch Elemente, die es zu einem außerordentlichen Werk machen. Dazu gehört die Technik: Während Gaul im gleichzeitig entstandenen, ebenso umfangreichen Werk auf Papier oft mit Tempera-Farben und auch mit Collage-Applikationen arbeitete, kamen beide Elemente auf der Leinwand nur ganz ausnahmsweise zum Einsatz. In seinem Farbauftrag begegnet uns das Bild mit einer Leichtigkeit, Transparenz und Offenheit, die es von den unmittelbar davor und danach in der dichteren Ölfarbe gemalten Gemälden unterscheidet. Tempera auf Leinwand zeugt von Gauls Lust zum Experiment mit dem Material, ebenso der wohl einmalige Akt des Einfügens eines Collage-Elements in die Malerei: Beide Ausnahmen sind zwar technisch-formale in der Bildherstellung, aber sie geben sich auch als inhaltlich begründete zu erkennen.
Wenngleich das Gemälde wie die meisten ohne Titel geblieben ist, so gehört es doch zu jener kleinen Gruppe von Werken, deren Ohne Titel Gaul um den Zusatz »Palimpsest«A ergänzt hat. Die explizit so betitelte Gruppe von Werken zwischen 1955 und 1958 ist nicht umfangreich und doch könnte »Palimpsest« als Überbegriff über einem wichtigen Teil von Gauls Malerei jener Zeit überhaupt stehen. Ums Auf- und Zudecken, um das Durchscheinen vom Grund in die Oberfläche geht es im Palimpsest wesentlich, ebenso auch in der Malerei überhaupt: Von all dem berichtet unser Gemälde, ohne es zu illustrieren, in seinem Einsatz von Handschriftlichem ebenso wie in der dunkeltonig verhaltenen Farbigkeit, die ein enges Spektrum von Weiß bis Schwarz reich auslotet, die aber auch um das braun-schwarze Collage-Element auf weißer Folie bereichert wird.
Mit seiner Durchsichtigkeit und der Korrespondenz von Grund und Fläche einerseits und dem Einsatz von Ziffern, Schrift- und Textresten andererseits bezieht sich das Bild explizit auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Palimpsest für das wiederverwendete Manuskript und das Mitspielen älterer Verwendungen. Schrift und Text sind für den literarisch hochgebildeten und interessierten Maler auch in seiner bildnerischen Praxis sehr wichtig, davon zeugen ab 1956 zahlreiche Papierarbeiten, oft eigentliche Schrift-Bilder, die er als »Poème-objet«, »Poème Visuel« oder »Poème-Visible« betitelt hat sowie, ab 1960, eine umfangreiche Gruppe von Gemälden, deren Ohne Titel jeweils um den Begriff »Farbmanuskript« ergänzt wurde.
Beat Wismer
ehemaliger Generaldirektor des Museums Kunstpalast Düsseldorf
A Palimpsest = antikes oder mittelalterliches Schriftstück, von dem der ursprüngliche Text abgeschabt oder abgewaschen und das danach neu beschriftet wurde