Cornelia Schleime
Der Kuss
2007
Acryl, Asphaltlack und Schellack auf Leinwand
160 × 200 cm
Rückseitig signiert und datiert
Privatsammlung Süddeutschland
- Galerie Ludorff, "Meisterwerke", Düsseldorf 2020
- Paula Modersohn-Becker Museum, "Berührend. Annäherung an ein wesentliches Bedürfnis", 19. September 2020 ‐ 24. Januar 2021 Bremen
- Bröhan-Museum. Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus, "Kuss. Von Rodin bis Bob Dylan", 15. Juni - 3. Oktober, Berlin 2017
- Galerie Ludorff, "40 Jahre 40 Meisterwerke", Düsseldorf 2015
- Museen Böttcherstraße (Hg), "Berührend. Annäherung an ein wesentliches Bedürfnis", Ausst.-Kat. Paula Modersohn Becker Museum, Bremen 2020, S. 33 + 55
- Galerie Ludorff, "Meisterwerke", Düsseldorf 2020, S. 130
- Anna Grosskopf/Tobias Hoffmann (Hg.), "Kuss. Von Rodin bis Bob Dylan", Ausst.-Kat. Bröhan-Museum. Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus, Berlin 2017, S. 88
Wie wunderbar, welch inniger, der Welt entrückter, verzückter Moment möge der Romantiker denken, während sich beim Kunsthistoriker die möglichen Vergleiche mit den Arbeiten von Klimt, Rodin, Sehgal zum selben Motiv einstellen mögen.
Bei mir erwachen zuerst die Fragen: Ist das Der Kuss einer beginnenden, einer endenden, einer erfüllten oder einer vom Scheitern bedrohten Liebe? Wer küsst wen und wo? Keine Anzeichen für eine Antwort, nur ein Gefühl von Innigkeit und Bedrohung gleichermaßen. Wir sehen keine Körper, die Köpfe nicht einmal vollständig und keinerlei Umgebung. Wie durch ein Zoom werden wir als Betrachter in einen Moment höchster Intimität gezogen, es gibt kein Entrinnen, nicht für die Malerin, die Gemalten und die Betrachter.
»Ich habe mich der Kunst immer so hingegeben wie der Liebe. Ich habe beides als das Gleiche angesehen. Es geht um Ausschließlichkeit«, schreibt Cornelia Schleime.
Das Bild Der Kuss ist Teil der 2007/8 entstandenen Reihe Love Affairs. Zeitgleich erschien Cornelia Schleimes erster Roman »Weit Fort«, Bilder und Worte über eine Liebe, die sowohl von Hoffnung und Sehnsucht, als auch von Enttäuschung und Verrat erzählen. Die Malerin ist den Ambivalenzen und Nuancen von Nähe und Ferne, Vertrauen und Misstrauen, Bestimmtheit und Unsicherheit, Hoffnung und Enttäuschung auf der Spur. Sie kennt kein Erbarmen und die Frage »Ist der Durst nach dem anderen stillbar?«, schwingt mal klarer, mal subtiler im Bildraum. Ein Höchstmaß an Sensibilität und Fragilität steht Bedrohung und Aggression entgegen. In Der Kuss zeigen sich die Liebenden hingebungsvoll, versunken, völlig abgelöst von allem, was sie umgibt. Sie erleben einen der schönsten und vollkommensten Momente im Leben, der jedoch nicht von Dauer ist. Die Spannung des dunkelgrünen Malhintergrundes umfängt das Paar. Die Malerin erzeugt sie durch ihre eigenwillige Maltechnik, einer Mischung aus Asphaltlack, Schellack und Acryl. Unruhe spricht aus den Verkrustungen der Fläche und auch die Gesichter der Liebenden sind gezeichnet von Materialschlachten und werden so zu vieldeutigen Lebenslandschaften. Asphaltdunkle Stellen im Gesicht des Mannes wechseln sich ab mit Flächen der Zersetzung, die wie eingeätzte Narben wirken. Das Gesicht der Frau ist sehr viel heller, lässt weiße Töne zu, doch auch bei ihr haben die Farbmixturen, fern von Ebenmäßigkeit, Spuren hinterlassen. Und doch oder gerade deshalb wagen sie es, sich ganz einander hinzugeben. Sie haben den Mut, das Gefühl der möglichen Verschmelzung zuzulassen. Der Durst wird für den Hauch eines Augenblicks gestillt, mag er den Liebenden unendlich erscheinen.
Und so erzählt Der Kuss nicht nur von der Liebe, sondern auch von der Kunst. Die Künstlerin und ihr Bild sind mit sich allein, die Außenwelt hat keinen Zutritt. Die Prozesse sind ähnlich, die Malerin gibt sich der Leinwand hin, stößt auf Widerstände, überwindet sie, kraftvoll und energiegeladen ist der Malvorgang, ein Kämpfen und Versöhnen der Lacke und Farben. Risiko gehört dazu, den Schellack auf die Flächen zu kippen, er kann zerstören oder vervollkommnen oder beides zugleich. Gelingt es, diese Ambivalenzen im Bild zu einem Gleichklang zu bringen, gerinnt die Zeit und es kann getrost von einem Meisterwerk gesprochen werden. Augenblick und Ewigkeit in einem – in der Liebe und in der Kunst.
Christiane Bühling
Kuratorin und Galeristin, Berlin