Emil Nolde
Schauspielerin
1910/1911
Aquarell und Tusche auf Japanpapier
30,8 × 20,7 cm
Signiert
Prof. Dr. Manfred Reuther, ehemaliger Direktor der Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde, 2005
Privatsammlung USA; Galerie Ludorff, Düsseldorf (2005-2014); Unternehmenssammlung Bayern (2014-2023)
- Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Herbst 2023", Düsseldorf 2023
- Galerie Ludorff, "Meisterwerke des Expressionismus", Düsseldorf 2011/2012
- Stadthalle Balingen, "Emil Nolde – Weltsicht, Farbe, Phantasie", Balingen 2008
- Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Herbst 2023", Düsseldorf 2023, S. 118
- Annette Vogel/Magdalena M. Moeller (Hg.), "Emil Nolde – Weltsicht, Farbe, Phantasie", Ausst.-Kat. Stadthalle Balingen, München 2008, mit Abb. S. 105
Im Winter 1910/11 hielt sich Emil Nolde, der seit 1905 ein Atelier in Berlin besaß, erneut in der deutschen Hauptstadt auf. Dort entdeckte er das nächtliche Amüsement in der Metropole, das ihn für kurze Zeit in seinen Bann zog. Allabendlich durchstreifte er mit seiner Frau Ada, die selber Schauspielerin war, die Kabaretts und Kleinkunstbühnen, die öffentlichen Lokale und Nachtcafés und hielt die gesammelten Eindrücke der dekadenten Vergnügungsgesellschaft mit Zeichenstift und Pinsel fest. Auch die Welt des Theaters wurde für ihn zu einem wichtigen Themenkomplex.
»Eines Tages ging ich zu Max Reinhardt, dem großen Mann der Berliner Bühne, und fragte ihn, ob ich (mit meiner Frau) zwei Freiplätze in der vordersten Reihe, unter dem Rampenlicht erhalten könnte? Reinhardt kurz: ›Ich kenne Sie nicht. Gehen Sie morgen in die Vorstellung und zeigen Sie mir, was Sie geschaffen haben. Dann will ich entscheiden.‹« (1) So beschrieb Emil Nolde die Anekdote, die ihn zu einer Reihe von Aquarellen in der Berliner Theaterszene führte. Nachdem Reinhardt der in einem kurzen, vergänglichen Moment erhaschten Aquarellzeichnungen voller Lebendigkeit gewahr wurde, standen Nolde die Türen zu den Inszenierungen in Berlin offen. Doch nicht in den Proben am Tage, sondern während des regulären Abendspielplans griff Nolde zum Pinsel. Aufgrund der Lichtverhältnisse im dunklen Zuschauerraum offenbarten sich jedoch Schwierigkeiten bei der Unterscheidung der einzelnen Farben. Zur Erleichterung seines ungewöhnlichen Vorhabens konstruierte Nolde für sich einen kleinen Malkasten mit Farbtöpfen in unterschiedlicher Größe, die er in einer festgelegten Reihenfolge anordnete und somit auch im Dunkeln zuzuordnen wusste. So entstanden Zeichnungen »[...] im halbdunklen Rampenlicht der Vorstellung nach den Schauspielern und den Gruppen der Bühne; ihre Bewegungen, ihre Leidenschaft, ihre Farben; hunderte Zeichnungen. Niemand mich kannte, so unauffällig als nur es möglich war, im Moment, wo der Vorhang hinunter rutschte, klappte ich meine Mappe zu.« (2)
Das hier vorliegende Blatt »Schauspielerin«, welches von Noldes Frau Ada betitelt wurde, entstand an einem dieser Winterabende 1910/11 in Berlin. Als Ganzfigur groß in den Vordergrund gestellt, wirft die zur Seite gedrehte Aktrice den Betrachtenden einen scheuen Blick zu – die Arme ausgestreckt. Die sparsame Farbwahl unterstreicht neben der Körperhaltung den Eindruck des Geheimnisvollen. Im violetten, zart durchschimmernden Kleid hebt sich die Schauspielerin von dem zwischen Schwarz und Braun changierenden Kulissenvorhang deutlich ab und ist doch gleichsam in das Dunkel des Theaterraumes eingehüllt. Farbliche Höhepunkte stellen hier das leuchtende Orange eines Schuhes und das im selben Farbton gestaltete Haarband dar. Mit wenigen, dynamisch gesetzten Linien umriss Nolde die Figur und verlieh ihr durch die ineinander übergehenden und lasierend aufgetragenen Farben einen Hauch von Verletzlichkeit und Rätselhaftigkeit. In der Unmittelbarkeit des Ausdruckes liegt der besondere Reiz der Darstellung, die nicht als Illustration des Bühnengeschehens verstanden sein will, sondern eine emotional durchwirkte, spontane Übertragung eines visuellen Erlebnisses auf das Papier darstellt. Das Geschehen auf der Bühne war für Nolde ganz wortgetreu ein sinnliches Schauen des Spiels. (3)
1 Nolde zit. in: Eberhard Roters Magdalena M. Moeller, »Emil Nolde in Berlin 1910/11«, Berlin 1989, S. 8.
2 Emil Nolde, »Jahre der Kämpfe«, Köln 2002, S. 237f.
3 Vgl. Roters/Moeller, wie Anm. 1, S. 7ff.