Paula Modersohn-Becker
Sitzendes Mädchen nach rechts
1898/1899
Bleistift auf Chamoispapier
36 × 25 cm
Monogrammiert "fPMB. OM." und "67" beschriftet von Otto Modersohn
Die Zeichnung entstand in Worpswede. Auf der Rückseite befindet sich eine weitere Skizze mit dem Titel "Stehende mit Kind auf dem Arm".
Werkverzeichnis Röver-Kann/Werner 2023 Nr. S II/25
Privatsammlung Hamburg/Bendestorf/Hamburg (ca. 1935-2024, in Familienbesitz)
- Galerie Ludorff, Neuerwerbungen Herbst 2024, Düsseldorf 2024
- Anne Röver-Kann/Wolfgang Werner, "Paula Modersohn-Becker. Werkverzeichnis der Handzeichnungen. Band II. Skizzenbücher", München 2023, Nr. S II/25
Paula Modersohn Beckers Werke sind von großer Intensität und Eigenständigkeit. Während es auch reine Landschaftsbilder gibt, zeigt sie ihr ganzes Können vor allem in ihren Porträts und den Personendarstellungen, die im Zentrum ihres Schaffens stehen. Sowohl ihre Gemälde als auch ihre Arbeiten auf Papier sprechen eine klare und einfache Sprache. Ihre Werke zielen stets darauf ab, in der Vereinfachung der Dinge das Wesentliche zu erfassen.
»Denn wie es mir scheint, geht alles richtige Bestreben auf Vereinfachung, Zurückführung und Vereinigung des scheinbar Getrennten und Verschiedenen auf einen Lebensgrund, und in diesem Bestreben das Notwendige und Einfache mit Kraft und Fülle und in seinem ganzen Wesen darzustellen, ist Kunst.«1 An dieser Stelle könnte man wahrhaftig glauben, dass diese Aussage von der Künstlerin selbst stammt, so treffend ist das Gesagte über ihre Kunst. Jedoch geht das Zitat zurück auf den Autor Gottfried Keller, der dies in seinem Roman »Der grüne Heinrich« schreibt - eines der Lieblingsbücher der Künstlerin.2
Die uns vorliegende Bleistiftzeichnung »Sitzendes Mädchen nach rechts« stammt aus einem Skizzenbuch der Künstlerin, das teilweise aufgelöst wurde, aber durch die wertvolle Arbeit der Werkverzeichnisautoren rekonstruiert werden konnte.
Das Ziel der Zeichnung liegt nicht darin, die dargestellte Person vollends naturalistisch wiederzugeben. Die Künstlerin konzentriert sich vielmehr darauf, den Ausdruck der dargestellten, jungen Frau zu erfassen. Diese sitzt auf einem Stuhl oder der Bettkante eines nicht weiter definierten Raumes. Man betrachtet die Frau von einem leicht erhöhten Standpunkt von der Seite aus. Eine eher ungewöhnliche Perspektive für ein Porträt. Die Dargestellte dreht ihren von weichen Umrisslinien umfangenen Körper den Betrachtenden nur um ein paar Grad entgegen. Umso mehr dreht sie aber den Kopf und beobachtet das Geschehen im Raum. Was allerdings genau passiert, bleibt im Verborgenen.
Im Zentrum des Interesses steht die Neugier der Dargestellten und unmittelbar damit verbunden steigt auch unsere Neugier nach dem, was da in dem Raum gerade geschehen mag. Deutungsversuche drängen sich unweigerlich auf. Sie laufen aber schlussendlich ins Leere, da Modersohn- Becker keine Erklärungen gibt. Die Mimik und die Körperhaltung der jungen Frau lassen keine eindeutigen Schlüsse zu. Modersohn-Becker hat hier herausragende Arbeit abgeliefert. Man ist unmittelbar von der Dargestellten und ihrem Blick eingenommen. Sie ist emotional sehr präsent, schaut aufmerksam hinüber, nimmt Anteil. Ihr Körper ist ein wenig starr, vielleicht sogar angespannt. Ohne sich allzu sehr dem Geschehen hinzuwenden ist sie doch sehr konzentriert. Ihre Hände sind über Kreuz in den Schoß gelegt, aber sie sind nicht entspannt. Sie sind im Ansatz sogar eher zur Faust geballt. Dieser Anspannung wirken die sehr feinen Bleistiftlinien entgegen, mit denen Modersohn-Becker die Formen der attraktiven, jungen Frau einfängt. Es ist eben dieser Gegensatz aus Spannung und Weichheit, der dieses Werk so faszinierend macht.
Auf der Rückseite des Blattes befindet sich eine weitere Zeichnung. Die »Stehende mit Kind auf dem Arm« muss in der Chronologie des Skizzenbuches unmittelbar als Nächstes davor oder danach entstanden sein. Es liegt der Schluss nahe, dass es sich bei der Frau auf der Vorderseite auch um eine junge Mutter handelt, die ihr Baby aus den Händen gegeben hat, es nun aber sehnlichst zurückhaben möchte und mit Adleraugen aufpasst, dass nichts passiert. Vielleicht beobachtet sie aber auch mit der nötigen Zurückhaltung eine andere Mutter mit deren Kind beim Stillen? So oder so ist die Zeichnung in einem sehr intimen Familienkontext entstanden. Vermutlich handelt es sich um ein Baby in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres. Das lange Kleid des Kindes liefert weitere Informationen. Es handelt sich bei diesem Kleidungsstück um ein Taufkleid, dass der Tradition entsprechend über die Generationen von allen Sprösslingen einer Familie getragen wurde. Die Zeichnungen sind also wohl sehr nah am Tauftermin des Kindes entstanden. Mit warmherzigem Blick schaut die Frau das Kind an, während sich das Baby aufgeweckt umschaut. Das Motiv von Mutter und Kind ist ein wiederkehrendes und auch ein sehr bedeutendes in dem Oeuvre der Künstlerin, und wir schätzen uns glücklich hier gleich zwei besonders schöne Zeichnungen in einem Werk anbieten zu können.
1 zit, nach Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, Erste Fassung 1853-55, Frankfurt a.M./leipzig 1985, S. 444.
2 Vgl. Brief Paula Beckers an Rilke vom 1.12.1900, B/vR, S. 249.