Bernd & Hilla Becher
Getreidesilo, Passau, D
1988
Silbergelatineabzug auf Barytpapier
50,2 × 59,1 cm
Rückseitig von beiden Künstlern signiert, betitelt, datiert, "Ed. 1/5" nummeriert und "p 142" beschriftet
Auflage 5
Fraenkel Gallery, San Francisco (bis 2003); Privatsammlung San Francisco
- Galerie Ludorff, "Meisterwerke", Düsseldorf 2020
- Galerie Ludorff, "Perspektiven der Fotografie", Düsseldorf 2020
- Galerie Ludorff, "Meisterwerke", Düsseldorf 2020, S. 8
- Galerie Ludorff, "Perspektiven der Fotografie", Düsseldorf 2020, Nr. 1
- Galerie Ludorff, "Neuerwerbungen Frühjahr 2019", Kat. 170, Düsseldorf 2019, S. 11
- Bernd & Hilla Becher, "Getreidesilos", München 2006, Nr. 231
Getreidesilos, Silos und Bunker für Zemente, Kohle und Kalk zählte das Künstlerpaar Bernd und Hilla Becher seit Beginn seiner Arbeit zu jenen Industriebauten, die ihr Interesse rund 50 Jahre binden sollte. So wie etwa für ihre berühmten Typologien von Fördertürmen, Hochöfen, Kühl- und Wassertürmen oder Gasbehältern fotografierten beide auch in verschiedenen europäischen Ländern und den USA zahllose Getreidesilos. Entstanden ist ein enorm umfangreiches Werk von sachlich aufgefassten Schwarz-Weiß-Ansichten der spezifischen Industriebauten, an denen sich ihre typischen Merkmale en détail ablesen lassen. Bechers fotografische Bildreihen erweisen sich quasi als visuelle Funktionsbeschreibungen. Morphologische, architektonische sowie kultur- und stilgeschichtliche Aspekte werden veranschaulicht und jeder Bau als eigene Schöpfung hervorgehoben – entwickelt von Ingenieuren, Architekten, Arbeitern und Handwerkern.
Die Fotografie des im Passauer Winterhafen Racklau an der Donau aufgenommenen Getreidespeichers zeigt den Bau in seiner aus künstlerischer Sicht meisterhaft wahrgenommenen Konstellation.A Der gigantische Speicherbau mit überdimensionalem Hausdach und aufgestocktem Maschinenhaus sowie dem kleineren Verwaltungsgebäude bieten eine außergewöhnlich kraftvolle und harmonische Anordnung, deren geometrischen Formen ins Auge fallen. Es sind prototypische Bauformen, die in ihrer Einfachheit an Bausteine erinnern, an Spielzeug, in dem auch ein Kran und eine Eisenbahn nicht fehlen dürfen. Ein enormes Haus an einem ruhenden, spiegelnden Gewässer, das sich dann jedoch fern der Idylle als Hafen für den Güterverkehr entpuppt.
Bernd und Hilla Becher haben ihren Aufnahmestandort genau austariert. Aus der gewählten Perspektive lässt sich das Getreidesilo im horizontalen Format in seinem ganzen Ausmaß nachvollziehen: das gleichseitige Satteldach mit seinen Gauben, den Baukörper mit seinen minimalistischen Fensteröffnungen auf der einen Hälfte und die Geschlossenheit des massiven Stahlbetonbaus auf der anderen Hälfte. Das kleinere Ebenbild des großen Speichers, das im rechten Winkel daneben stehende Verwaltungsgebäude, findet eine ebenso präzise Wiedergabe und wird als übereck aufgezeichneter Baukörper wahrnehmbar. Es erweist sich insofern als ein guter Maßstabsvergleich, entspricht es doch der üblichen Größe eines Wohnhauses und unterstreicht gleichsam das enorme Ausmaß des Silos.
Blickt man in die Geschichte, so erfährt man, dass es sich bei betreffendem Getreidespeicher um einen sogenannten Reichstypenspeicher gehandelt hat, der in nationalsozialistischer Zeit zwischen 1935 und 1941 gebaut wurde. 1992 erfolgte der Abbruch durch Sprengung, veranlasst von der Bayerischen Landeshafenverwaltung, die damals Eigentümerin des Gebäudes war.B Da der Betrieb des Winterhafens Racklau schrittweise eingestellt wurde, strebte man eine Umnutzung des Geländes an. Bauähnliche Reichstypensilos, teils mit Backstein verklinkert, lassen sich auch für andere Orte recherchieren. Sie wurden seinerzeit vor dem Hintergrund kriegsvorbereitender Maßnahmen, so der ausreichenden heimischen Lebensmittelversorgung von Bevölkerung und Wehrmacht, forciert gebaut. Diese stehen bzw. standen in Eisenhüttenstadt (Oder-Spree-Kanal), in Holzminden (Weser), in Tangermünde (Elbe) oder auch in Chojna (Königsberg), Polen. Die Speicherkapazität lag bei rund 10.000 Tonnen und die Silos hatten bei etwa 50 Metern Höhe 14 Stockwerke. Ähnlich wie bei vielen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges gebauten Hochbunkern zum Schutz der Zivilbevölkerung sollte die hausähnliche Form mit Schieferdach und Fensteröffnungen auch bei den Reichstypensilos Tarnfunktion haben und Luftangriffe abwehren.
Bernd und Hilla Becher haben mit ihrer Fotografie ein Werk geschaffen, das nicht allein eine wirkungsvoll aufgefasste, faszinierende Formstudie ist, sondern zugleich ein bedeutendes Geschichtsdokument unserer Kulturlandschaft liefert, das die Vielschichtigkeit unserer Lebenswirklichkeit aufscheinen lässt.
Gabriele Conrath-Scholl
Leiterin Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur
A Vgl. Bernd und Hilla Becher, »Getreidesilos«, München 2006, S. 231.
B Für die Informationen, die bayernhafen Passau zum betreffenden Silogebäude beisteuerte, sei herzlich gedankt.